Zwischen Erinnern und Vergessen
Toleranz. Keine Vorurteile haben. Niemanden ablehnen
Vor wenigen Tagen ist die Zeitzeugin und Holocaust-Überlebende Helga Feldner-Busztin verstorben. 1929 in Wien geboren, 1943 in das KZ Theresienstadt deportiert, erlebte sie dort 1945 die Befreiung durch die russische Armee. Seit den 1990er-Jahren stellte sie sich bis zuletzt für Gespräche und Vorträge in Schulen zur Verfügung, denn das Wichtigste, was sie im Leben gelernt hatte, wollte sich auch vermitteln: „die Toleranz, keine Vorurteile haben, niemanden ablehnen.“ (Zeitmagazin 22/2023)
Es gibt kaum mehr Menschen, die von dem Gefühl des Ausgegrenzt-Werdens, der Verfolgung und des Hasses, das in den 1930er- und 1940er-Jahren des 20. Jahrhunderts in Dörfern und Städten zu spüren war, erzählen können. Um das 1945 gegebene Versprechen „Nie wieder“ zu halten, braucht es die Auseinandersetzung mit Geschichte vor Ort – damit die Millionen auch heute noch ein Gesicht bekommen.
Geschichten und Spaziergänge
Auslöser für uns als Volkskultur Niederösterreich sich mit diesem Thema zu beschäftigen, war das Projekt „KremsMachtGeschichte“, das sich der dunklen Geschichte der Stadt annimmt. Dies ist besonders dem Historiker Robert Streibel zu verdanken, der sich schon jahrzehntelang mit der lokalen Zeitgeschichte beschäftigt und dazu forscht. Mit der Publikation „Krems – Das Ende der Verdrängung“ ist es ihm gelungen, Geschichten und Geschichte rund um die Vertreibung der Kremser Jüdinnen und Juden ebenso darzulegen, wie die Verbrechen, die das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft begleiteten. Nicht mehr die Zeitzeugin, der Zeitzeuge ist der Träger der Geschichte, sondern die Stadtspaziergänge. Krems macht Geschichte – Geschichte des Nationalsozialismus in Krems
Die Sammlung Mautner
Ein interessanter Anknüpfungspunkt ist die umfangreiche, volkskundliche Sammlung Mautner, bis zur Schließung des Volkskundemuseums Wien 2024 (wegen einer umfassenden Neugestaltung) präsentiert in der Ausstellung „Gesammelt um jeden Preis“. Konrad und Anna Mautner standen dem Museum durch ihr Forschungsinteresse und auch über zahlreiche vor 1938 eingebrachte Objekte nahe. Anna verwendete für ihr Textildruck-Unternehmen „Mautner Handdrucke“ immer wieder historische Model aus dem Museum. Der nach den Nürnberger Rassegesetzen als jüdisch angesehene Familie Mautner gelang 1939 die Flucht, für die umfangreiche Sammlung wurde aber schon 1938 ein Bescheid der MA 2 erlassen, gemäß dem Ausfuhrverbotsgesetz zur „Sicherstellung von Kunstgegenständen aus der Sammlung Mautner“.
Wenn man sein altes Leben zurücklassen muss, was nimmt man in ein neues Leben mit?
Dies ist die Frage, mit der sich Jüdinnen und Juden ab 1938 auseinandersetzen mussten. Dies ist aber auch heute jene Frage, die uns eine Möglichkeit der Annäherung in der Vermittlung bietet. Die Teilnehmenden des Workshops im Haus der Regionen werden aufgefordert fünf Objekte, die für sie einen besonderen Wert haben, aufzuschreiben. In einem Gedankenexperiment wird ihnen nun mitgeteilt, dass sie aufgrund einer Gesetzesänderung 1. eine Auflistung ihrer Besitztümer den Behörden übergeben werden muss, 2. dass sie eine Strafabgabe zu leisten haben und 3. dass sie ihre Wohnungen und Häuser verlassen müssen. Flucht und Neustart müssen aus dem verbliebenen Eigentum finanziert werden. Die Teilnehmenden lassen sich bei diesem Workshop auf die Rolle der Ausgegrenzten ein; sie erleben, wie es ist, immer mehr in die Ecke gedrängt zu werden und sich von allem Wertvollem (sowohl materiell als auch immateriell zu verstehen) zu trennen.
Der Wert der Dinge
Und was waren diese Gegenstände, die in den 1930er- und 1940er-Jahren mitgenommen wurden? Exemplarisch die Geschichten dreier Kleidungstücke: Familie Adler, eine religiöse jüdische Familie, wohnhaft in Bad Erlach und Wien, trug in den 1920ern ganz selbstverständlich Dirndl, Lederhose und Joppe. Regine Adler, geborene Kapeller, war promovierte Chemikerin und aufgrund ihrer Forschungserfolge gelang ihr gemeinsam mit Ehemann Ernst und Tochter Liselotte die Flucht nach Schottland. Mit dabei war auch ein Dirndl, das sie auch fern der Heimat in Erinnerung an eine „unbeschwerte Zeit“ trug, wie ihre Tochter im Interview festhielt. Zu sehen in der Wechselausstellung in der Ehemaligen Synagoge St. Pölten. „Dinge bewegen. Gegenstände und ihre jüdische Geschichte“ (bis 10.11.2024)
Das blau-weiß gemusterte Dirndl der Grete Stern ist heute samt einigen passenden Accessoires und einem Erinnerungsfoto aus dem Jahr 1937 im Jüdischen Museum Sidney zu finden. In der Beschreibung der verschiedenen Objekte steht auch immer der Satz „Prior to the Anschluss in 1938, Grete und Fritz Stern and their daughter Eva, considered themselves assimilated and were proud to wear the traditional garb of their homeland.“ https://www.mobiledinge.at/ Das mobile Ding des Monats August 2021
„[…] unmöglich in Österreich anzukommen und nicht in Tracht zu sein.“
Stephan Mautner, der ältere Bruder von Konrad Mautner, schenkte seinem Neffen Franz Stephan Breuer eine Lederhose, die dieser mit in die Emigration nach England nahm. Sie wurde von ihm bis ins hohe Alter getragen und, wie seine Tochter Elizabeth Baum-Breuer schilderte, auch bei den Urlauben und Familienbesuchen in Österreich. „Wenn wir über die Grenze fuhren, bei Passau mit dem Zug, musste jeder dann in den Waschraum gehen und musste sich umziehen. Weil es war unmöglich in Österreich anzukommen und nicht in Tracht zu sein.“ https://www.mobiledinge.at/ Das mobile Ding des Monats Jänner 2021
Millionen von Menschen sind derzeit auf der Flucht vor Krieg, Konflikten, Verfolgung und unerträglichen Lebensbedingungen. Ist erst die Entscheidung getroffen, bleibt oft nur mehr wenig Zeit, sich darauf vorzubereiten. Und die vorhin gestellte Frage „Was nehme ich mit?“ ist mit all ihrer Dringlichkeit da. Setzt man sich mit den Menschen, ihren Geschichten und Objekten auseinander, führt uns dies wieder zur Helga Feldner-Busztin zurück: Toleranz, keine Vorurteile haben, niemanden ablehnen.
Eva Zeindl
Literaturtipps
Robert Streibel: Krems – Das Ende der Verdrängung. Bibliothek der Provinz, 2024
Gesammelt um jeden Preis! Warum Objekte durch den Nationalsozialismus ins Museum kamen und wie wir damit umgehen. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Volkskundemuseum Wien. Wien 2023
Menschen und Denkmale: Ehemalige Synagoge St. Pölten. Bibliothek der Provinz, 2024
Anmeldungen zum Workshop „Herkunftsfragen“ und Stadtspaziergängen KremsMachtGeschichte: Workshops und Spaziergänge, 8. und 10. November 2024 – Volkskultur